Herder. Lecture 2

1. Nach dem Kreise ihrer Empfindungs- richtet sich auch ihre Denkart. […] Gesetze, Regierung, Lebensweise tun noch mehr, und so wird die Denkart des Volks, eine Tochter des allen, auch des allen Zeugin. (Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume (1774/78), in Herder, Über Literatur und Gesellschaft: Ausgewählte Schriften, ed. Claus Träger, 2nd ed. (Leipzig, 1988), p. 100.)

2. Welche Tiefe [liegt] in dem Charakter nur Einer Nation […] [Er ist] ganze Natur der Seele, die durch Alles herrscht, die alle übrige Neigungen und Seelenkräfte nach sich modelt, noch auch die gleichgültigsten Handlungen färbet. […] Jede menschliche Vollkommenheit [ist] national, säkular […]. Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt. (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) (Frankfurt a.M., 1967), pp. 36, 37, 40.)

3a. Philosoph im nordischen Erdental, die Kinderwage [s]eines Jahrhunderts in der Hand […]

3b. Ein Patriarch kann kein römischer Held […] sein; und eben so wenig, wozu ihn das Ideal deines Katheders […] hinaufschraubte, um ihn falsch zu loben oder bitter zu verdammen. […] Im Grunde also wird alle Vergleichung mißlich. (Auch eine Philosophie, p. 44.)

4. Die ganze Menschengeschichte ist eine reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Zeit. (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91), quoted by Hans-Georg Gadamer, 'Nachwort', Auch eine Philosophie, ed. cit., p. 167.)

5a. Der Affekt, der im Anfange stumm, inwendig eingeschlossen, den ganzen Körper erstarrete, und in einem dunkeln Gefühl brausete, durchsteigt allmählich alle kleine Bewegungen, bis er sich in kennbaren Zeichen predigt. Er rollt durch die Mienen und unartikulierte Töne zu der Vernunft herab, wo er sich erst der Sprache bemächtigt: und auch hier durch die genausten Merkmale der Absteigerung sich endlich in eine Klarheit verliert, die ihm schon sein Selbstgefühl frei läßt. ('Von der Ode: Fragmente einer Abhandlung über die Ode', in Herder, Werke 1764-1772, ed. Ulrich Gaier (Frankfurt a.M. 1985), pp. 77-96 (p. 88).)

5b. Aus Geberden werden nach einiger Zeit Mienen, aus Mienen Blicke, aus Blicken Worte. ('Von der Ode: Entwürfe', in Herder, Werke 1764-1772, ed. Ulrich Gaier (Frankfurt a.M. 1985), pp. 63-73 (p. 66).)

6. Freilich sind unsre Seelen heut zu Tage durch lange Generationen und Erziehung von Jugend auf anders gebildet. Wir sehen und fühlen kaum mehr, sondern denken und grübeln nur; wir dichten nicht über und in lebendiger Welt, im Sturm und Zusammenstrom solcher Gegenstände, solcher Empfindungen; sondern erkünsteln uns entweder Thema, oder Art, das Thema zu behandeln, oder gar beides - und haben uns das schon so lange, so oft, so von früh auf erkünstelt, daß uns freilich jetzt kaum eine freie Ausbildung mehr glücken würde, denn wie kann ein Lahmer gehen? (Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker, in Von deutscher Art und Kunst, ed. Hans Dietrich Irmscher (Stuttgart, 1968), p. 36.)

7. [Man] hat […] zu Uebungen und Gebrauch […] kleinere Reden erdacht, die aus dem Satze, Beweise, angehängten Erläuterungen und dem Beschluß zusammengesetzt, und eine Chrie genannt werden. Eine Rede besteht eigentlich aus [einer Reihe von] Chrien.
[Die sogenannte aphthonianische Chrie hat die folgenden Teile:] 1) Lob des Urhebers und Sinnspruch, (Laus autoris & sententia) 2) Umschreibung, (Paraphrasis) 3) Grund, (Aetiologia) 4) Gleichniß, (Simile) 5) Beispiel, (Exemplum) 6) Gegensatz, (Contrarium) 7) Zeugniß, (Testimonium) 8) Beschluß (Conclusio). (Johann Gotthelf Lindner, Anweisung zur guten Schreibart überhaupt und zur Beredsamkeit insonderheit (Königsberg, 1755), pp. 363-364.)

Task: Write an Aphthonian chreia on the sententia ('Sinnspruch') 'Was die Schickung schickt, ertrage! Wer ausharret, wird gekrönt!' (Herder).


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