Friedrich Schiller, Brief eines reisenden Dänen (1785)
Extracts (the whole essay can be found in Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, ed. Gerhard Fricke and Herbert G. Göpfert, 5 vols, 10th ed. (München: Hanser, 1980), vol. 5).
Der heutige Tag war mein seligster, so lang ich Deutschland durchreise. [ ] Heute habe ich eine unaussprechlich angenehme Überraschung gehabt. Mein ganzes Herz ist erweitert. Ich fühle mich edler und besser.
Ich komme aus dem Saal der Antiken zu Mannheim. Hier hat die warme Kunstliebe eines deutschen Souveräns die edelsten Denkmäler griechischer und römischer Bildhauerkunst in einem kurzen geschmackvollen Auszug versammelt. Jeder Einheimeische und Fremde hat die uneingeschränkteste Freiheit, diesen Schatz des Altertums zu genießen; denn der kluge und patriotische Kurfürst ließ diese Abgüsse nicht deswegen mit so großem Aufwand nach Italien kommen, um allenfalls des klienen Ruhmes teilhaftig zu werden, eine Seltenheit mehr zu besitzen, oder, wie so viele andere Fürsten, den durchziehenden Reisenden um ein Almosen von Bewunderung anzusprechen. Der Kunst selbst brachte er dieses Opfer, und die dankbare Kunst wird seinen Namen verewigen.
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Empfangen von dem allmächtigen Wehen des griechischen Genius trittst du in diesen Tempel der Kunst. Schon deine erste Überraschung hat etwas Ehrwürdiges, Heiliges. Eine unsichtbare Hand scheint die Hülle der Vergangenheit vor deneim Aug wegzustreifen; zwei Jahrtausende versinken vor deinem Fußtritt; du stehst auf einmal mitten im schönen lachenden Griechenland, wandelst unter Helden und Grazien und betest an, wie sie, vor romantischen Göttern.
Dein erster Blick fällt auf die kolossalische Figur des Herkules [ ].
Zunächst an dieser fesselt dich die unnachahmliche Gruppe des Laokoon. [ ]
Unter allen Figuren, die dieser Saal enthält, ist der vatikanische Apoll die vollkommenste. [ ]
Merkwürdig waren mir auch die Büsten der großen Griechen und Römer, der Kopf eines sterbenden Alexanders, der Niobe, einer Tochter der Niobe, der Kleopatra, des Nero und Caligula, der Faustina und einige mehr. Der Zufall hatte den blinden Homeruskopf und den Kopf des Herrn von Voltaire nebeneinander gestellt. Ich weiß keine beißendere Satire auf unser Zeitalter. Voltaire ich glaube, daß man das jetzt in Deutschland laut sagen darf Voltaire war ein wahrhaftig großer Geist, aber warum war mir sein Kopf in dieser Gesellschaft so lächerlich?
Ich werfe noch einen Blick auf diese Statuen.
Warum zielen alle redende und zeichnende Künste des Altertums so sehr nach Veredlung?
Der Mensch brachte hier etwas zu stande, das mehr ist, als er selbst war, das an etwas Größeres erinnert als seine Gattung beweist das vielleicht, daß er weniger ist, als er sein wird? So könnte uns ja dieser allgemeine Hang nach Verschönerung jede Spekulation über die Fortdauer der Seele ersparen. Wenn der Mensch nur Mensch bleiben sollte bleiben könnte, wie hätte es jemals Götter und Schöpfer dieser Götter gegeben?
Die Griechen philosophierten trostlos, glaubten noch trostloser und handelten gewiß nicht minder edel als wir. Man denke diesen Kunstwerken nach, und das Problem wird sich lösen. Die Griechen malten ihre Götter nur als edlere Menschen und näherten ihre Menschen den Göttern. Es waren Kinder einer Familie.
Ich kann diesen Saal nicht verlassen, ohne mich noch einmal an dem Triumph zu ergötzen, den die schöne Kunst Griechenlands über das Schicksal einer ganzen Erdkugel feiert. Heir stehe ich vor dem berühmten Rumpfe [des Herkules], den man aus den Trümmern des alten Roms einst hervorgrub. In dieser zerschmetterten Steinmasse liegt unergründliche Betrachtung Freund! Dieser Torso erzählt mir, daß vor zwei Jahrtausenden ein großer Mensch da gewesen, der so etwas schaffen konnte daß ein Volk da gewesen, das einem Künstler, der so etwas schuf, Ideale gab daß dieses Volk an Wahrheit und Schönheit glaubte, weil einer aus seiner Mitte Wahrheit und Schönheit fühlte daß diese Volk edel gewesen, weil Tugend und Schönheit nur Schwestern der nämlichen Mutter sind. Siehe, Freund, so habe ich Griechenland in dem Torso geahnt.
Unterdessen wanderte die Welt durch tausend Verwandlungen und Formen. Throne stiegen stürzten ein. Festes Land trat aus den Wassern Länder wurden Meer. Barbaren schmolzen zu Menschen. Menscher verwilderten zu Barbaren. Der milde Himmelstrich des Peloponnes entartete mit seinen Bewohnern wo einst die Grazien hüpften, die Anakreon scherzten und Sokrates für seine Weisheit starb, weiden jetzt Ottomanen und doch, Freund, lebt jene goldene Zeit in diesem Apoll, dieser Niobe, diesem Antinous, und dieser Rumpf liegt da unerreicht unvertilgbar eine unwidersprechliche ewige Urkunde des göttlichen Griechenlands, eine Ausforderung dieses Volks an alle Völker der Erde.
Etwas geschaffen zu haben, das nicht untergeht, fortzudauern, wenn alles sich aufreibt rings herum O Freund, ich kann mich der Nachwelt durch keine Obelisken, keine eroberte Länder, keine entdeckte Welten aufdringen ich kann sie durch kein Meisterstück an mich mahnen ich kann keinen Kopf zu diesem Torso erschaffen aber vielleicht eine schöne Tat ohne Zeugen tun!