Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771-74)

Erhaben. […] Es scheinet daß man in den Werken des Geschmaks überhaupt dasjenige Erhaben nenne, was in seiner Art weit größer oder stärker ist, als wir es erwartet hätten, weßwegen es uns überrascht und Bewundrung erweket. Das blos Schöne und Gute, in der Natur und in der Kunst, gefällt, ist angenehm oder ergötzend; es macht einen sanften Eindruk, den wir ruhig geniessen: aber das Erhabene würkt mit starken Schlägen, ist hinreissend und ergreift das Gemüth unwiderstehlich. […] Was eine liebliche Gegend, gegen den erstaunlichen Anblik hoher Gebürge […], das ist das Schöne gegen das Erhabene.

[…]

[F]ür jedes Erhabene [müssen wir] ein Maaß haben, nach welchem wir seine Größe, wiewol vergeblich, zu messen bemüht sind. Wo dieses fehlt, da verschwindet die Größe, oder sie wird blos zur Schwulst. Indem wir aber vermittelst des Maaßes, das wir haben, die Größe des Erhabenen zu begreifen bemüht sind, erhebt sich der Geist oder das Herz; die Seele nihmt einen hohen Schwung um sich zu jener Größe zu erheben. Daher kommt in einigen Fällen die Würkung, die Longinus dem Erhabenen zuschreibt, wenn er sagt: »Natürlicher Weise wird die Seele durch das wahre Erhabene gleichsam erhöhet, und indem sie selbst einen hohen Schwung bekommt, mit Vergnügen und großen Gesinnungen erfüllt, als wenn sie das, was sie hört, selbst erfunden hätte.« Dieses aber gilt nur von dem Erhabenen, das eine antreibende Kraft hat; denn die von der zurükstoßenden Art ist, erwekt Furcht und Schreken.

Um die Gattungen des Erhabenen näher zu betrachten merken wir an, daß die Gegenstände der Bewundrung entweder auf die Vorstellungskräfte oder auf die Begehrungskräfte der Seele würken. Denn wir bewundern die Dinge, zu deren klarer Vorstellung unsre Begriffe nicht hinreichen, und auch die, welche das Gefühl unsrer Begehrungskräfte übersteigen.

Alle Gattungen der Vorstellungen, die welche durch die Sinnen kommen, die von der Phantasie gebildet, und die vom Verstand erzeuget werden, können zur Bewundrung führen. Man kann die Majestät der Natur in den Alpen nicht ohne Bewundrung sehen; und wer solche Gegenstände würdig mahlen oder beschreiben kann, der erreicht das blos sinnlich Erhabene […].

Noch weiter erstrekt sich das Erhabene der Phantasie, die uns eine zweyte sinnliche Welt erschaft. Durch diese Größe sind die Gemählde des Himmels und der Hölle, bey Milton und Klopstok, erhaben: welch erstaunlicher Reichthum der Phantasie in ihren Beschreibungen! Auch der Verstand hat erhabene Gegenstände; so geben uns die neuern Philosophen erhabene Begriffe von dem Weltgebäude, und von der Größe des göttlichen Verstandes; auch nennen wir die Wahrheiten und Betrachtungen erhaben, da durch wenig Begriffe eine weite Gegend in dem Reich der Wahrheit helle wird.

Wir bewundern die Gegenstände der Vorstellungskräfte wegen der Menge und des Reichthums der Dinge, die uns auf einmal vorschweben und die wir zu fassen nicht vermögend sind, die sehr viel weiter gehen, als wir folgen können; oder wir bewundern sie aus Ueberraschung, weil sie unsrer Erwartung entgegen laufen, weil wir etwas widersprechend scheinendes für wahr erkennen; wenn das Große klein, das Kleine groß wird; wenn aus Unordnung und Verwirrung Ordnung entsteht. So ist es ein erhabener Gedanken für die, welche die Richtigkeit desselben einigermaaßen einsehen, daß aus aller scheinenden Unordnung in der physischen und sittlichen Welt, die schönste Ordnung im Ganzen bewürkt wird. Und wenn Pope von Gott sagt: er sehe mit gleichem Blik eine Wasserblase und Welten in Staub verfliegen, oder Haller von seiner Ewigkeit singt:

Der Sternen stille Majestät
Die uns zum Ziel befestigt steht,
Eilt vor dir weg wie Gras an schwühlen Sommertagen;
Wie Rosen, die am Mittag jung
Und welk sind von der Dämmerung,
Eilt vor dir weg der Angelstern und Wagen.

so kommt das Erhabene dieser Gedanken aus der wunderbaren Vergleichung dessen, was wir als das Größte der körperlichen Welt kennen, mit dem Kleinesten; wodurch wir erst die wunderbare Größe Gottes einigermaaßen erkennen, gegen den eine ganze Welt und ein Stäubchen, gleich groß sind. So gränzet es auch an das Erhabene, wenn der eben angeführte Dichter in seinem Gedichte von dem Ursprung des Uebels, nachdem er eine reizende Beschreibung von der Schönheit der Natur gemacht hat, plötzlich ausruft:

Und dieses ist die Welt, worüber Weise klagen!

[…] Dieses ist also die eine Gattung des Erhabenen, das unsre Vorstellungskräfte mit Gewalt angreift.

Die andre Gattung würkt die Bewundrung durch das Gefühl des Herzens. Indem wir andrer Menschen Empfindungen, Leidenschaften, innerlich würkende Kräfte oder äusserlich ausbrechende Handlungen, mit unserm Gefühl vergleichen und gegen das halten, was wir zu thun vermögend sind, so entsteht allemal Bewundrung, wenn wir Kräfte sehen, die weit über die Unsrigen gehen, oder deren Größe wir nicht anders, als durch eine ausserordentliche Anstrengung unsers eigenen Gefühls, fassen können. Eben dieses geschieht auch, wenn wir im Guten oder Bösen etwas sehen, das unsre Empfindung gleichsam bestürmt. Daher entsteht das Erhabene in den Gesinnungen, in den Charaktern, in den Handlungen, und auch in den leblosen Gegenständen der Empfindung.

[…] Dieses Erhabene hat auch im Bösen statt, weil selbst in der Gottlosigkeit etwas Bewundrungswürdiges seyn kann. Die Anrede, womit Satan [im 1. Buch von Miltons verlohrnem Paradies] nach seinem Fall die Hölle grüßt, hat etwas Erhabenes. […] Jede würkende Kraft von ausserordentlicher Größe hat etwas Bewundrungswürdiges. Die Stärke des Gemüths, das sich durch nichts niederdrüken läßt, eine Kühnheit die keine Gefahr achtet, ein Muth, den kein Hinterniß überwältiget, hat etwas Großes, wenn gleich diese Stärke nicht gut angewendet wird. Das Böse darin ist zufällig, das Gute wesentlich. […]

Wie die hohe Sinnesart, die das Gemüth bey den wichtigsten Vorfällen, selbst bey dem stürmenden Ungewitter der Gefahren und des Unglüks in bewundrungswürdiger Ruhe zu erhalten vermag, etwas Erhabenes hat, so können im Gegentheil auch die Leidenschaften eine wunderbare und erstaunliche Würksamkeit hervorbringen. Bey der stillen Größe der hohen Gesinnungen bewundern wir die Stärke der Seele, die sich bey den heftigsten Anfällen in Ruh zu erhalten vermag; bey der Heftigkeit gewisser Leidenschaften zieht die, unsre Erwartung übertreffende Würksamkeit, die alles überwältigende Kraft derselben, unsre Bewundrung nach sich. […]

Dieses sind also die verschiedenen Gattungen des Erhabenen in der sichtbaren und unsichtbaren Natur. […]

Unsere Zeiten sind durch sich selbst dem Erhabenen, in Absicht auf die Vorstellungskräfte, wegen der Cultur der speculativen Wissenschaften und der Naturlehre, ganz vortheilhaft, und was ihnen in Ansehung des Sittlichen und des Politischen fehlet, kann doch noch einigermaaßen durch die Bekanntschaft, die wir mit den alten Griechen und Römern, den freyesten und in den Aeusserungen der Sinnesart ungehindertsten Völkern, haben, ersetzt werden.

[…]

 

 

Wunderbar. […] Wir bewundern alles, was unsre Erwartung und unsre Begriffe, oder das gemeine Maaß, nach welchem wir die Dinge schäzen, oder für die Aufmerksamkeit abwägen, merklich übertrift. Jedes ungewöhnliche Talent; jede Tugend und jedes Laster, dessen Größe weit über die gemeinen Schranken geht kurz jedes Außerordentliche in der körperlichen oder sittlichen Welt, erwekt Bewundrung […].

Einige Kunstrichter scheinen dieses Wunderbare blos in dem Uebernatürlichen zu sezen, das durch würkliche Wunderwerke der Allmacht geschieht. Aber dadurch schränken sie diesen Begriff zu eng ein. Auch natürliche Dinge, können so außerordentlich und so sehr über unsre Erwartungen seyn, daß man sie zum Wunderbaren rechnet. Miltons Himmel und Hölle, und die unermeßlichen ätherischen Weltgegenden, die Klopstoks reiche Phantasie erschaffen hat, scheinen zu dem ächten Wunderbaren zu gehören.

Wir würden außer diesem auch noch das zum Wunderbaren rechnen, was uns Gegenstände schildert, die zu der würklichen Welt, oder Natur gehören, oder zu gehören scheinen, aber so völlig unerwartet und ausserordentlich sind, daß sie uns die Natur in einer zwar nicht wiedersprechenden, aber völlig neuen, außerordentlichen und höheren Gestalt zeigen, […] was zwar die Begriffe, die wir von der Welt und dem Lauf der Natur haben, nicht geradezu aufhebet, aber sie sehr weit übertrifft. […] Wunderbar wäre für Unwissende, eine wahrhafte Beschreibung der unermeßlichen Größe und höchst ordentlichen Einrichtung des Weltgebäudes, die den großen Begriffen gemäß wäre, die die Astronomen davon haben. Wunderbar, wiewol aus natürlichen und vorhandenen Ursachen begreiflich, ist die Sündfluth […]. Wunderbar wär auch für die Einwohner eines ebenen und anmuthigen Landes, die wahrhafteste Schilderung der Länder, die aus aufgethürmten Alpen bestehen.

 


Return to home page