Herder. Lecture 3
- Bei den Morgenländern [war] die Rede gleichsam ganz Spiritus,
fortgehender Hauch und Geist des Mundes [
]. Es war Othem
Gottes, wehende Luft, die das Ohr aufhaschete, und die toten Buchstaben,
die sie hinmaleten, waren nur der Leichnam. (Abhandlung über
den Ursprung der Sprache, ed. Hans Dietrich Irmscher, Stuttgart
1969, p. 13)
- Wenn wahre Dichtkunst vor aller Schrift und nur vor derselben
war: wie vielmehr war sie vor allem Druck. (Ueber die Würkung
der Dichtkunst auf die Sitten der Völker (1778), in Sämmtliche
Werke, ed. Suphan, VIII, 429.)
- Die Buchdruckerei hat viel Gutes gestiftet; der Dichtkunst
hat sie viel von ihrer lebendigen Würkung geraubet.
Einst tönten die Gedichte im lebendigen Kreise, zur
Harfe, von Stimme, Mut und Herz des Sängers oder Dichters
belebet; jetzt standen sie da, schwarz auf weiß, schön
gedruckt auf Blätter von Lumpen. [
] Jetzt schrieb
der Dichter, voraus sang er. [
] [Er] schrieb [
]
jetzt [
] für die papierne Ewigkeit, da der vorige Sänger
und Rhapsode nur für den jetzigen Augenblick sang,
in demselben aber eine Würkung machte, daß Herz und
Gedächtnis die Stelle der Bücherkammer auf Jahrhunderte
hin vertraten. (Über die Würkung der Dichtkunst auf
die Sitten der Völker (1778), in Herder, Über
Literatur und Gesellschaft: Ausgewählte Schriften, ed.
Claus Träger, 2nd ed. (Leipzig, 1988), p. 50.)
- [Europa] kam in sanften Tod, d. i. in politische Ordnung.
[
] Monarchie im Staate erhob ihr Haupt. Je mehr nun Freiheit,
einzelne Kräfte geschwächt wurden, um zu den
Füßen des Einen zu ruhen, je mehr mechanische Ordnung
an die Stelle des Muts, der Würkung individueller Seelen
trat, so mehr entging der Dichtkunst lebendiger Stoff und
lebendige Würkung. Der alte Rittergeist konnte nur
zum Spotte gebraucht werden; die neuern Sitten -
sie hingen so wenig mit Poesie zusammen, als sie von ihr abhingen
- vom Gesetze und Rechte und ganz veränderten Umständen
der Welt gingen sie aus. Den Regenten schmeicheln, einförmige
Kriegszüge, politische Rechtshändel, machiavellische
Negotiationen besingen, war das Zweck der Dichtkunst? (ibid.,
pp. 48-49.)
- Diese Philosophie dient der Dichtkunst und dem menschlichen
Herzen wenig. Streicht alles Wunderbare, Göttliche und Große
aus der Welt aus und setzt lauter Namen an die Stelle;
des wird sich kein Geschöpf auf Gottes Erdboden, als etwa
der Wortgelehrte freuen. Die Dichtkunst kann nie entspringen und
nie würken, als wo man Kraft fühlt, lebendige
Kraft selbst siehet, aufnimmt und fortpflanzt. [Ein] atheistischer
Staat wird wahrlich keine oder elende Dichter haben. (ibid, p.
49.)
- Wenn die Sprache noch nicht Bücher- aber Liedersprache
ist: so hat sie Reichthum an Bildern, und den höchsten Wohlklang:
Wird sie Sprache des sittlichen Volks: so bekommt sie mehr Reichthum
an Politischen Ausdrücken, allein der hohe Wohlklang und
das Bildervolle mildert sich: Als Büchersprache wird sie
reicher an Begriffen; allein der Poetische Wohlklang wird Prose.
(Über die neuere deutsche Literatur: Erste Sammlung von
Fragmenten (1767), in Sämmtliche Werke, ed. Suphan,
I, 231.)
- Jede Nation lieferte die vortrefflichste [sic] Meisterstücke
der Poesie, ehe sich noch die Prose von jener getrennt [
].
Da die Sprache aus der Wildheit zur politischen Ruhe trat, war
sie merklich von der prosaischen unterschieden: die stärksten
Machtwörter, die reichste Fruchtbarkeit, kühne Inversionen,
einfache Partikeln, der klingendste Rhythmus, die stärkste
Deklamation - alles belebte sie, um ihr einen sinnlichen Nachdruck
zu geben, um sie zur poetischen zu erheben. Aber da die Prose
aufkam, [
] entfernte sie sich von der sinnlichen Schönheit.
Der Deutlichkeit wegen wurden die Machtwörter umschrieben,
die Synonyme ausgesucht, bestimmt, ausgemustert, die Idiotismen
gemildert. [
] Statt der Sprache der Leidenschaft ward sie
eine Sprache [
] des Verstandes. (Über die neuere
deutsche Literatur: Erste Sammlung von Fragmenten (1767);
in Herder, Über die neuere deutsche Literatur, ed.
A. Gillies (Oxford, 1969), pp. 8-9.)
- [Die] Poesie [ist] die Sprache der Sinne und erster mächtiger
Eindrücke, die Sprache der Leidenschaft [
]. Natur,
Empfindung, ganze Menschenseele floß in die Sprache und
drückte sich in sie, ihren Körper, ab. [
]
Nicht [die Poesie], sondern die Natur, die ganze Welt der Leidenschaft
und Handlung, die im Dichter lag und die er durch die Sprache
aus sich zu bringen strebet - diese würket. Die Sprache ist
nur Kanal, der wahre Dichter nur Dolmetscher oder noch eigentlicher
der Überbringer der Natur in die Seele und in das Herz seiner
Brüder. Was auf ihn würkte und wie es auf ihn würkte,
das würkt fort, nicht durch seine, nicht durch willkürliche,
hinangeflickte, konventionelle, sondern durch Naturkräfte.
(Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der
Völker (1778), in Herder, Über Literatur und
Gesellschaft: Ausgewählte Schriften, ed. Träger,
p. 9.)
- In fremden Sprachen quälte man sich von Jugend auf Quantitäten
von Sylben kennen zu lernen, die uns nicht mehr Ohr und Natur
zu fühlen gibt; nach Regeln zu arbeiten, deren wenigste,
ein Genie, als Naturregeln anerkennet; über Gegenstände
zu dichten, über die sich nichts denken, noch weniger sinnen,
noch weniger imaginiren läßt; Leidenschaften zu erkünsteln,
die wir nicht haben, Seelenkräfte nachzuahmen, die wir nicht
besitzen - und endlich wurde Alles Falschheit, Schwäche,
und Künstelei. Selbst jeder beste Kopf ward verwirret [
].
Die Dichtkunst, die die stürmendste, sicherste Tochter der
Menschlichen Seele seyn sollte, ward die ungewißeste, lahmste,
wankendste: die Gedichte fein oft corrigirte Knaben- und Schulexercitien.
(Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die
Lieder alter Völker, in Von deutscher Art und Kunst,
ed. Hans Dietrich Irmscher (Stuttgart, 1968), pp. 35-36.)
- Was [...] das ägyptische Schilf (biblos) getan
hatte, daß es nämlich die griechischen Rhapsoden allmählich
verstummen machte und statt ihrer lebendigen Gesänge Bücher
(biblia) in die Hand gab, das taten mit der Zeit auch die
Baumwoll- und Lumpenschriften. Provenzalen und Trobadoren,
Fabel- und Minnesinger schwiegen allmählich: denn man saß
und las. Je mehr sich Schriften vermehrten, desto mehr verminderten
sich ganz eigentümliche, freie Gedanken; endlich ward der
menschliche Geist ganz in Lumpen gekleidet. (Briefe zur Beförderung
der Humanität. Achte Sammlung (1796), in Herder, Über
Literatur und Gesellschaft: Ausgewählte Schriften, ed.
Claus Träger, 2nd ed. (Leipzig, 1988), p. 278.)
- [Der Dichter] soll Empfindungen ausdrücken: - Empfindungen
durch eine gemahlte Sprache in Büchern ist schwer, ja an
sich unmöglich. Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch
die Zeichensprache des Körpers - so spricht die Empfindung
eigentlich, und überläßt den todten Gedanken das
Gebiet der todten Sprache. Nun, armer Dichter! und du sollst deine
Empfindungen aufs Blatt mahlen, sie durch einen Kanal schwarzen
Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt,
und sollst dem wahren Ausdruck der Empfindungen entsagen; du sollst
nicht dein Papier mit Thränen benetzen, daß die Tinte
zerfließt, du sollst deine ganze lebendige Seele in todte
Buchstaben hinmahlen, und parliren, statt auszudrücken. (Über
die neuere deutsche Literatur: Erste Sammlung von Fragmenten
(1767); in Sämmtliche Werke, ed. Suphan, I, 394-395.)
- Eine Ode der Naturempfindung [wäre] dunkel, eintönig,
verworren, hart, sein, daß sie alten kalten Leuten lächerlich
wäre; aber jetzt da er schreibt (um gelesen zu werden) so
ordnet er alle Bilder der Empfindung nach dem Gesichtspunkt und
der Ordnung des Lesenden [
]
Eine Ode der Natur, die nicht die Nachahmung sondern der
Ton des Wütenden ist wird also ein lebendiges Geschöpf,
da unsere Ode [
] eine maschinenmäßige Statue
[
] ist. Ein rasender Naturmensch, wird hüpfen, unartikuliert
tönen, deklamieren mit den natürlichen Akzenten, und
eben durch dies Unregelmäßige rühren. Unser Wohlstand
hat nicht den Zeichen der Empfindung bloß Ketten angelegt
[
], sondern auch wirklich unsre Empfindung der Natur phantastisch
eingeschränkt, daß wir sie nie zu ihrer vorigen Lebhaftigkeit
zurückführen können. ('Von der Ode: Entwürfe',
in Herder, Werke 1764-1772, ed. Ulrich Gaier (Frankfurt
a.M. 1985), pp. 63-73 (pp. 68, 72-73).)
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