Herder
Lecture 4
- Wenn [ich] etwas zu verdrängen Lust hätte, wär's
die neue Romanzenmacher- und Volksdichterei, die mit der alten
meistens so viel Gleichheit hat, als der Affe mit dem Menschen.
Das Leben, die Seele ihres Urbildes fehlt ihr ja, nämlich:
Wahrheit, treue Zeichnung der Leidenschaft, der Zeit, der Sitten;
sie ist ein müßiger Stutzer in einen ehrwürdigen
Barden, oder einen zerrissenen blinden Bettler verkleidet, und
mich dünkt, die Maskerade ist nicht der Rede wert. (Herder,
Werke in zehn Bänden, ed. Martin Bollacher et al.,
III: Volkslieder. Übertragungen. Dichtungen, ed. Ulrich
Gaier, Frankfurt a. M. 1990, p. 226).)
- Also bliebe nur noch eins, [
] [daß man] sich etwa
noch nach den Resten der Volkslieder, wie sie jetzt leben
[
] umtue und zusehe und sammle. ('Vorrede'
(1774) to the first edition of the Volkslieder, withdrawn
before publication in 1775; ibid., p. 17.)
- Aber sie liegen so tief, sind so verachtet und
entfernet, hangen so am äußersten Ende des Untergangs
und ewigen Verlustes - Wir sind eben am äußersten
Rande des Abhanges: ein halb Jahrhundert noch und es ist zu spät!
(ibid., p. 21)
- Nur wer ist der sie sammle? der sich [
] um Lieder des
Volks bekümmre? auf Strassen, und Gassen und Fischmärkten?
im ungelehrten Rundgesange des Landvolks? um Lieder, die oft nicht
skandirt, und oft schlecht gereimt sind? wer wollte sie sammlen
- wer für unsre Kritiker, die ja so gut Sylben zählen,
und skandiren können, drucken lassen? (Auszug aus einem
Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker,
in Von deutscher Art und Kunst, ed. Hans Dietrich Irmscher
(Stuttgart, 1968), p. 43.)
- Des eigentlichen Dichters Trieb ist Wut; seine Worte
Pfeile; sein Ziel das ganze Herz; dies ist das göttliche
Unaussprechliche der Dichtkunst. Gemildert ist sein Zweck Rührung;
und sein Trieb Aufweckung. - Noch mehr geschwächt heißt
sein Stachel Vergnügen; und seine Absicht, die Neigung zu
gefallen. Die entfernteste uneigentlichste Triebfeder ist Grundsatz,
und sein Endzweck Nutzen. ('Von der Ode: Fragmente einer
Abhandlung über die Ode', in Herder, Werke 1764-1772,
ed. Ulrich Gaier (Frankfurt a.M. 1985), pp. 92-93.)
- Noch weniger kann es [mein] Zweck sein, regelmäßigere
Gedichte oder die künstlichere nachahmende Poesie gebildeter
Völker zu verdrängen: denn dies wäre Torheit, oder
gar Unsinn. (Volkslieder. Übertragungen. Dichtungen,
ed. Gaier, p. 226.)
- Wenn viele den Satz so mißverstanden haben, als ob in
gebildeten Staaten kein Dichter leben und werden
könne, so muß man den Mißverstand bessern, nicht
aber die Wahrheit der Geschichte aufgeben oder verändern.
(Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der
Völker (1778), in Herder, Über Literatur und
Gesellschaft: Ausgewählte Schriften, ed. Claus Träger,
2nd ed. (Leipzig, 1988), p. 10 n. 5.)
- Auch in Zeiten des größesten Ungeschmacks können
wir uns nach der großen Regel der Natur sagen: tendimus
in Arcadiam, tendimus! Nach dem Lande der Einfalt, der Wahrheit
und Sitten geht unser Weg" (Briefe zur Beförderung
der Humanität. Achte Sammlung (1796), in Herder, Über
Literatur und Gesellschaft, ed. Träger, p. 323)
- Das Anständige, das sich Geziemende, honestum,
decorum, kalon prepon [
] ist ein unterscheidender
Zug der Komposition und Denkart der Alten in ihren
besten Schriftstellern und würdigsten Männern. [
]
Dies Gefühl moralischer Schicklichkeit, Würde und Grazie
durch Lesung der Alten in uns zu wecken und zu erhalten, ist um
so nötiger, da in der gegenwärtigen Welt eine Konvenienz
in niederträchtigen, frechen Meinungen, die für Grundsätze
gelten und im offenen Gebrauch sind, dasselbe ganz zu ersticken
drohen. [
] Hier also liegt meines Erachtens die Regel;
sie ist eine logische, poetische, ethische Regel. Barbaren kennen
sie nicht; losgebundene Willkür verachtet sie, zerstreuende
Gelehrsamkeit geht vorüber. Wer sie fand, wer in seiner Jugend
nach ihr gebildet wurde, der kann sie nicht vergessen; sie hat
sich seinem Gemüt eingedrückt als das Herz seines Herzens,
als die Seele seiner Seele. Id facere laus est, quod decet,
non quod licet. Quod decet honestum est et quod honestum est decet"
(ibid., pp. 273-275)
- Kein kritischer Schöpfeimer, und alle Fässer der
Danaiden geben Waßer, wo kein Quell ist - und es ist und
wird ewig allein jener wunderthätige Huf des Flügelroßes
von Genie bleiben, der anschlägt und der siebenfache Quell
strömet. (Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian
und die Lieder alter Völker, in Von deutscher Art
und Kunst, ed. Irmscher, p. 59.)
- Da sie also Seele und Mund in den festen Bund gebracht hatten,
sich einander nicht zu verwirren, sondern zu unterstützen,
beizuhelfen: so entstanden daher jene für uns halbe Wunderwerke
von aoidois, Sängern, Barden, Minstrels, die die größten
Dichter der ältesten Zeiten waren. Homers Rhapsodien
und Oßians Lieder waren gleichsam impromptus, weil
man damals noch von Nichts als impromptus der Rede wußte.
(Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die
Lieder alter Völker, in Von deutscher Art und Kunst,
ed. Irmscher, p. 35.)
- Mich dünkt, nach der Lage unsrer gegenwärtigen Dichtkunst
sind [
] zwei Hauptfälle möglich. Erkennet ein
Dichter, daß die Seelenkräfte, die theils sein Gegenstand
und seine Dichtungsart fodert, und die bei ihm herrschend sind,
vorstellende, erkennende Kräfte sind: so muß
er seinen Gegenstand und den Inhalt seines Gedichts in Gedanken
so überlegen, so deutlich und klar faßen, wenden, und
ordnen, daß ihm gleichsam alle Lettern schon in die Seele
gegraben sind, und er gibt an seinem Gedichte nur den ganzen,
redlichen Abdruck. Fodert sein Gedicht aber Ausströmung der
Leidenschaft und der Empfindung, oder ist in seiner Seele diese
Klasse von Kräften die würksamste, die geläufigste
Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: so überläßt
er sich dem Feuer der glücklichen Stunde, und schreibt und
bezaubert. (Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian
und die Lieder alter Völker, in Von deutscher Art
und Kunst, ed. Irmscher, p. 37.)
- Lange und stark und lebendig gedacht, oder schnell und würksam
empfunden - im Punkt der Thätigkeit wird beides impromptu,
oder bekömmt die Vestigkeit, Wahrheit, Lebhaftigkeit und
Sicherheit desselben, und das - nur das ist, was ich sagen wollte.
(Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die
Lieder alter Völker, in Von deutscher Art und Kunst,
ed. Irmscher, p. 38.)
Return to home page