Lastergeschichten: Etymologische Essays zu Begriffen aus dem 'Renner' PD Dr. Henrike Lähnemann
Sommersemester 2004
Deutsches Seminar, Universität Tübingen

"Aller Laster Anfang"

Etymologische Essays zu mittelhochdeutschen Lasterbezeichnungen

erstellt von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Proseminars 'Einführung in die Sprachgeschichte'

Die 'Lastergeschichten' erläutern Bedeutung und Entwicklung wichtiger mittelhochdeutscher Tugenden und Laster an Beispielen aus dem 'Renner' Hugos von Trimberg; die Zitate sind jeweils mit dem Volltext des 'Renner' verlinkt, so daß ihr Kontext eingesehen werden kann.
Zur Benutzung: Die Begriffe sind alphabetisch angeordnet und lassen sich über den Index aufsuchen. Die mehrfach zitierte Literatur ist gebündelt am Ende angegeben. Als Abkürzungen sind durchgängig gebraucht: Idg. für Indogermanisch, Lat. für Lateinisch, Germ. für Germanisch, Ahd. für Alt-, Mhd. für Mittel-, Nhd. für Neuhochdeutsch. st und sw für "stark" und "schwach", v für Verb, MFN für maskuline, feminine und neutrale Nomina.
Bôsheit Olivia Barros-de Miranda, Leonie Schönleber
Gîtikeit Yordanka Dzhokova, Georg Sebastian Klöß
Hôchvart Sylvia Behrendt, Marina Lobjanidze
Liegen & Triegen Marie-Claire Lutzke, Diana Nägele
Meineid Sebastian Kornmesser
Muotwille Philipp Rothermel, Stephan Schuster
Nît Stefan Klotzbücher, Sascha Lichter
Tôrheit Boryana Krasteva, Stefanie Stich
Tregheit Stefanie Murphy
Tumpheit Andrée Gerland
Trunkenheit Heiner Klaasen-van Husen
Ungedult Julia Fritz, Daniel Solling
Unkiusche Lisa-Maria Raff, Lotte Mundt
Unmâze Irina Petrova, Manfred Streiter
Untriuwe Sabrina Hirche
Virwiz Annika Ochner, Annika Wuttke
Vrâz Meike Siegelova
Zorn Melanie Young

Die Personifikation der Trägheit: Der Teufel schiebt ein Kissen unter den Kopf
Die Personifikation der Trägheit in der Handschrift Jb: Der Teufel schiebt einer auf einem Esel reitenden Frau ein Kissen unter den Kopf: Lâzheit als des tiufels bolster

Olivia Barros-de Miranda, Leonie Schönleber

Bôsheit

Bedeutungsspektrum

bôsheit: starkes Femininum, im Mhd. verschiedene Bedeutungen: Bôsheit gehört zu den durch ein Adjektiv und das Suffix -heit gebildeten Abstrakta.

Wortbildung

1. Das Adjektiv boese

Die Entwicklung des Adjektivs boese bis zum Germanischen lässt sich nicht rekonstruieren: Die lautlich vergleichbaren Wörter unterscheiden sich in ihrer Bedeutung zu sehr voneinander. Möglicherweise ist es verwandt mit dem englischen boast (Prahlerei, Stolz / in der Verbform: prahlen, sich brüsten). Aus dem germanischen bausia entstand die altdeutsche Form bosi und daraus wiederum boese im Mittelhochdeutschen. Boese wird je nach Zusammenhang verschieden übersetzt: Als moralische Wertung (schlecht, böse, falsch), mit sozialer Bedeutung (einfach, niederen Standes) oder für Gegenstände (minderwertig).

2. Das Suffix -heit

In den germanischen Sprachen war heit noch ein selbständiges Hauptwort (vgl. gotisch haidus, altnordisch heidr, altenglisch had, altschwedisch hed für: Ehre, Art und Weise, Stand, Geschlecht, Eigenschaft).Vermutlich leiten sich alle diese Formen aus dem altindischen ketuh für "Helle, Licht, Bild, Gestalt" ab. Möglich wäre auch eine Verwandtschaft mit dem indogermanischen skait (hell, leuchtend). Im Althochdeutschen entspricht heid / heit dem lateinischen persona oder sexus, daraus entstand mhd. heit (Beschaffenheit, Art und Weise).

3. Die Zusammensetzung des Wortes bôsheit

Für die Bildung von Abstrakta durch Zusammensetzung von Substantiv und Suffix -heit finden sich erste Belege im Westgermanischen ( um 300 n. Chr.). (z. B. manaheit - man+heit = Männlichkeit oder naraheit - narr+heit = Narrheit, Torheit). Im Althochdeutschen des 9. Jahrhunderts traten bei derselben Konstruktionsweise zunehmend Adjektive an die Stelle der Substantive. Im Mittelhochdeutschen wurde heit fast ausschließlich zur Abstraktbildung verwendet; als eigenständiges Hauptwort (s. o.) hatte es kaum noch Bedeutung. Auffallend bei der Wandlung von boese zu bôsheit ist der Wegfall des Umlauts. Hier handelt es sich nicht um einen Rückumlaut, wie Jakob Grimm irrtümlich annahm. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass das 'i' des ahd. bosi zu schnell aus dem Sprachgebrauch verschwand, um einen Umlaut bewirken zu können.

Beispiele

1. Schlechtigkeit, Böses:

2. Schlechte Eigenschaft, böses Denken und Handeln:

3. Geiz:


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Yordanka Dzhokova, Georg Sebastian Klöß

Gîtikeit

Gîtikeit: starkes Femininum, in Analogie zu lat. Avaritia (avarus = geizig + Suffix -tia) abgeleitet mit dem Suffix
-heit von dem adj. gîtic; aus gîtic-heit dann die Form gîtikeit.

Etymologie

Aus dem ahd. Adjektiv gîtag (9. Jahrhundert) wurde im Mhd. gîtec oder auch gîtic. Im Frühnhd. entstand daraus dann geitig. Im Mhd. lässt sich teilweise auch schon die Form gîzic finden, z.B. in der Erlanger 'Renner'-Handschrift von 1347, beeinflußt von Verbformen wie gîtsen. Denn dem Adjektiv gîtic, das in gîtikeit enthalten ist, liegt das ahd. Substantiv gît (9. Jahrhundert) oder auch gîte zugrunde, aus dem auch das Verb gîtesen bzw. gîtsen entstand. Als ähnliche Wortformen findet sich im Altenglischen gîtsian. Auch im außergermanischen Sprachraum treten ähnliche Worte auf, so im Litauischen geisti und im Russischen ždat. Als indogermanische Wurzel, die außer im neuhochdeutschen Gier auch in Geier auftritt, lässt sich *ghei oder *gheidh rekonstruieren, was beides wohl "begehren, gierig" hieß.

Bedeutungsspektrum des Wortes

Die ursprüngliche Bedeutung kommt aus dem Gebiet des Essens und Trinkens: "gierig auf Essen und Trinken". Bald erweiterte sich die Bedeutung auf gierig auch außerhalb des Essens und Trinkens. Dabei konnte gîtic durchaus auch positiv gemeint werden. Die Bedeutung verschob sich zunehmend auf die Gier nach Gut und Geld, sodass gîtic "gierig nach Gut" bedeutete. Im weiteren Verlauf entwickelte sich die Bedeutung weiter zum Festhalten von Geld und Gut, bedeutete also zunehmend knauserig. Diese heutige Bedeutung erscheint vereinzelt ab dem 15. und 16. Jahrhundert und setzte sich erst im 18. Jahrhundert durch.

Beispiele


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Sylvia Behrendt, Marina Lobjanidze

Hôchvart


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Diana Nägele, Marie-Claire Lutzke

Liegen & Triegen

Grammatische Bestimmung

Die Zusammenstellung der beiden substantivierten reimenden starken Verben der 2. Reihe liegen und triegen wird durch die Verwendung in sprichwörtlichen Zusammenhängen populär, vgl. Freidank 165,21: liegen triegen ist ein site, dem vil der werlde volget mite (Lügen und Trügen ist eine weitverbreitete Unsitte).

Triegen:

"Irreführen, täuschen". Es stammt von dem althochdeutschen Wort triugan ab und ist verwandt mit dem mittelniederländischen Wort driegen. Im germanischen Sprachbereich ist es eng verwandt mit altisländisch draugr. "Gespenst" und weiterhin mit dem Substantiv "Traum" (eigentlich etwa "Trugbild"). Außerdem sind noch mit triegen folgende Worte verwandt: altindisch druhyati ("sucht zu schaden, tut zu leide"), awestisch druj ("Lügen, Trug") und mittelirisch aurddach ("Gespenst").

Liegen:

"Eine Unwahrheit sagen; lügen", ahd. liogan ab, gotisch liugan; englisch to lie; schwedisch ljuga. Es geht mit verwandten Wörtern im Baltoslawischen auf eine Wurzel *leugh zurück . Im germ. Sprachbereich sind verwandt die Sippen von ›leugnen‹ und ›locken‹. Das darauf zurückzuführende Substantiv ist ›Lug‹ (mittelhochdeutsch luc; althochdeutsch lug). Im Nhd. wird das Substantiv nur noch in der Wendung "Lug & Trug" verwendet. Die Verbindung Lug & Trug kommt mit dem 16. Jahrhundert auf, wird aber zu dieser Zeit viel seltener gebraucht als das spätmittelalterliche Verbenpaar liegen und triegen. Luther verwendete "Lug & Trug" überhaupt nicht, obwohl für ihn liegen und triegen eine Lieblingswendung war. Er hat statt "Lug & Trug" das nominale liegen und trug verwendet, das auch sonst einem im 16. Jh. häufig, später nur noch vereinzelt begegnet (Luther 34,2,133W): das ir grund und boden auff lugen und trug gefundiert seye - "...daß ihre ganze Begründung auf Lug und Trug beruht")

Beispiel

Lügen und Irreführen begegnen u.a. als personifizierte Laster - jeweils in weiblicher Form - als Mundschenk und Truchseßim Hofstaat des Hochmuts (mhd. '
Hôchvart'):
4571 Liegen, triegen mac wol sin ir schenkin und ir truhsezin.

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Sebastian Kornmesser

Meineid

Meineid: starkes Maskulinum

Bedeutung nach dem Grimmschen Wörterbuch:

Meineid: "[...]; uraltes gesamtdeutsches rechtswort; [...]; zusammengesetzt mit dem subst. mein verbrechen, woneben sich jedoch in der alten sprache auch nicht zusammengesetzt und mit dem adj. verbunden ein meiner eid, [...]. als feststehender ausdruck für die sache blieb das wort, auch als der erste theil der zusammensetzung dem sinne nach erstorben war: [...]"
mein: "[...] adj. verbrecherisch, falsch, ein nachklang des mhd. adj. mein, der in der formel ein meiner eid für das componierte meineid dauert: swer der ist der einen mainen ait swert. Nürnberger Polizeiordnung, S. 37 (14. Jh.); eben so im adverbialen genitiv meines (in verbindung mit schwören): alle die strafen an leib und an gut, di mains sweren. [...]"
eid: "[...] m. ahd. eid, mhd. eit eides, [...], genau zu unterscheiden von ahd. eit ignis, mhd. eit eites. in eid musz die vorstellung eines feierlichen, heiligen, festigenden bandes enthalten sein. daher ein heiliger starker, schwerer, theurer, unverbrüchlicher eid, eid und pflicht stehen verbunden. es heiszt den eid thun, ablegen, leisten, ableisten, schwören, halten oder brechen, fälschen; einem den eid abnehmen, ihn schwören lassen, mhd. den eit nëmen und gëben (RA. 902), altn. eid strengja; einen des eids, heute einem den eid erlassen; etwas auf seinen eid nehmen, mit eid bestätigen. der schwörende ist durch den eid gebunden, gehalten, verpflichtet, sobald die wirkung aufhört, des eids ledig, los und quitt. [...]"

Bedeutungsspektrum des Wortes Meineid im Mittelhochdeutschen:

1. Falscher Eid

2. Metonymisch für den Eidbruch und die darauf stehende Strafe

(7497, Kombination mit 'Acht und Bann', in 7501 in der üblichen Bedeutung von Meineid)

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Philipp Rothermel, Stephan Schuster

Muotwille

Muotwille: swM (teilweise auch stM: muotwill), welches nicht zählbar ist und deshalb im Plural nicht existiert , ahd. muotwillo.

Bedeutung im Mittehochdeutschen:

Das mittelhochdeutsche Wort muotwille kann mehrere Bedeutungen haben und macht sinngemäß zum neuhochdeutschen Wort Mutwille eine starke Veränderung durch:
  1. Eigener freier Antrieb (lateinisch: motus animorum, affectus, cor, oder auch arbitrium)
  2. Willkür
  3. Geschärfte Bedeutung: Lust zum Frevel und ihre Betätigung, leichtfertige Bosheit
  4. Im milderen Sinne: begehren, streben, verlangen (auf Lust und Vergnügen gerichtet), dadurch auch:
  5. Verhüllender Ausdruck für Wolllust, Geilheit, fleischliche Lust (lateinisch: lascivia)
  6. Adverbiale Genitivform mutwillens: Hat in der älteren Sprache die Bedeutung: in frevelhafter Absichtlichkeit (vgl. 2 und 3)
  7. Die neuere Bedeutung von Mutwillen, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert ergeben hat, zeigt die Fortsetzung von Punkt 3 und 5 und wird dadurch stark verschärft. Definition nach deutschem Recht: Wille oder Absicht, Unrecht zu tun, Vorsatz.
Das mittelhochdeutsche Wort muotwille mit der Bedeutung: eigener freier Antrieb, wird zum Neuhochdeutschen Wort Mutwille nicht nur in der Schreibart verändert, sondern sinnlich zur Bedeutung: Willkür, die nicht nach Recht und Unrecht fragt, sondern die sich sogar gegen das Recht (siehe Definition Deutsches Recht) richtet, stark verschärft.

Beispiel:

Kontext: Nebukadnezar droht alle Traumdeuter zu töten, wenn sie ihm nicht seinen vergessenen Traum berichten und auslegen können.

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Stefan Klotzbücher und Sascha Lichter

Nît

stM, ahd. Nid(h), entspricht in den lat. Lasterkatalogen der invidia.

Etymologie

Der Wortstamm findet sich in allen germanischen Sprachen, aber nicht darüber hinaus. Die Herkunft ist unklar: germ. nîtha könnte sich als nîth-a oder als nî-tha zerlegt werden. Zum mhd. nît finden sich als Verben nîden, benîden (heute "neiden" nur noch in gehobener Sprache, normal ist das Präfixkonstrukt "beneiden"). Der Stamm hat auch in die Namensgebung Einzug gefunden. Vgl. Nîthart ("ist im feindlichen Hass und Eifer stark"), der als Personenname bezeugt ist, aber auch als personifizierter Neider verstanden werden kann: unter den spiezslîfêren ("Spießschleifer", wohl im Sinne von "Scharfmachern") des Nît werden im Renner,
14169, genannt: Nîthart, Siurinc, Slangenzagel, Billunc, Nîdunc, Tugenden hagel. (im Sinn von "Mißgünstiger, Sauertopf, Schlangenschwanz, Wetzstein, Neidhammel, einer, der die Verdienste anderer herabsetzt").

Bedeutungsspektrum:

Es bildet sich ein dreidimensionales Bedeutungsfeld: sowohl psychologisch-anthropologische, ethisch-religiöse, als auch sozial-politische Perspektive. Somit kann das Wort nît auf der einen Seite positiv, auf der anderen Seite negativ besetzt sein. In Hugos von Trimberg 'Renner' wird der nît im Kontext der Lasterdidaxe immer als Sünde aufgefaßt, ist also stets negativ besetzt.

Beispiele

Nît tritt im 'Renner' gekoppelt mit Zorn (wohl aufgrund der lat. Alliteration von 'Ira et Invidia') und wird als fünfte 'Distinctio' nach der Unkiusche behandelt und noch mit Haz als dritter Sünde innerhalb des Bedeutungsfeldes von der Gîtikeit abgeleitet. Die folgenden Beispiele stammen aus der Einleitung, die durch Begriffskoppelungen und Beispiele eine Definition der titelgebenden Sünden zu geben versucht:

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Boryana Krasteva, Stefanie Stich

Tôrheit

Tôr / Tôre: m. ursprünglich ein substantiviertes Adjektiv, dessen r auf grammatischen Wechsel gegenüber s zum ahd tusîg und ags. dysig (töricht) zurück geht. (vgl. engl: dizzy = schwindlig und nhd. "Dusel"). Die Ausgangsbedeutung ist "umnebelt, verwirrt" und scheint jener von taub gleichzukommen: Einer, der entweder nicht hören kann oder nicht will. Dazu anzuordnen ist ahd. dos, die Stille. Sinnverwandt sind die Ausdrücke "Gecke" und "Narr". Während jedoch die Bezeichnung Narr durchaus schmeichelhaft gemeint sein kann, im Sinne von "witzig und unterhaltsam", ist Tor durchweg ein demütigender und negativer Ausdruck. Der tôr ist eine verrückte, irrsinnige, geisteskranke Person, die sich durch ihre Unvernunft, Dummheit und törichte Handlungsweise hervortut. Bezeichnend ist, dass betören, mhd. betœren, nicht nur im Sinne von "zu törichtem Handeln verleiten" auftaucht, sondern ebenso mit der Bedeutung "in sich verliebt machen, bezaubern" vorkommt. Tôrheit: mhd. stF (vgl. oben
-heit), bezeichnet den Zustand, die Denk- und Handlungsweise eines tôren. Als vrou Tôrheit tritt das Laster personifiziert im Seifrid Helbling auf.

Beispiele

Im 'Renner' begegnet die Torheit nicht explizit unter den Lastern (dafür wird die bedeutungsmäßig nahe tumpheit gebraucht), aber tôr- ist ein beliebtes Präfix für ad hoc gebildete Spottnamen, z.B. bei der Schelte, daß die geistliche Zucht innerhalb des Klerus weitgehend brachliege:
tôr und tump gehören redensartlich im Mhd. zusammen wie "dumm und dämlich" im Nhd.:

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Stefanie Murphy

Trægheit

Trægheit/Trâgheit/Trâkeit: starkes Femininum, in Analogie zu lat. Iganvia, Inertia, Pigritia, Segnitia (pigris = faul + Suffix -tia) abgeleitet mit dem Suffix
-heit von dem adj. træge ahd. trâgi bzw. der Nebenform trâc; aus trâc-heit dann die Form trâkeit.

Etymologie

Wohl von der idg. Wurzel *drgh: "fest, dicht, zäh" (so noch im litauischen drizti: "zäh, hart werden"). Im Ahd. dann trâgi "von langsamer Bewegung" (vgl. noch die physikalische Verwendung des Begriffs); im Ablaut dazu steht got. trigô (Trauer), anord. tregi (Sorge).

Bedeutungsspektrum

Im physikalischen Sinne bedeutet Trâgheit auch noch im Mhd. "Schwerfälligkeit" bzw. intensiviert "Ermüdung"; im geistigen und seelischen Sinne nimmt es die Bedeutung "Untätigkeit, Gleichgültigkeit" an. Trâgheit wird im Mhd. synonym mit Lazheitgebraucht. Über die Temperamentenlehre werden diese Begriffe mit der Todsünde der accedia/tristitia verbunden, die v.a. Mönche bedroht: seelische Trägheit/Traurigkeit, die darauf beruht, daß an der Erösung der eigenen Seele verzweifelt wird und der Mensch sich selbst aufgibt. Dann kann Trâgheit zu einer Bedrohung für das Seelenheil werden. Im 'Renner' Hugos von Trimberg wird Trâgheit zwar als letztes Laster auch unter die sieben Hauptsünden gerechnet, die das Werk strukturieren.

Beispiel

In der einleitenden Charakterisierung der Todsünde wird das ganze Spektrum ihrer Erscheinungsformen und damit auch der möglichen Bedeutungen von Lazheit und Trâgheit aufgezeigt. Sie tritt auf, nachdem bereits Hoffart, Zorn und Gîtekeit vorgeführt worden sind:

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Andrée Gerland

Tumpheit

Etymologie

Tumpheit: starkes Femininum, in Analogie zu lat. Stultitia (stultus = dumm + Suffix -tia) abgeleitet mit dem Suffix
-heit von dem adj. tump. Das Adjektiv tump findet seinen Ursprung in der idg. Wurzel *dhubh. Hier hatte es zum einen die Bedeutung "stumpf sein" oder "Stumpf an Sinnen", was wahrscheinlich zur ahd./mhd. Konnotation "taub und stumm" führte (belegt bis ins 17. Jh.). Zum anderen hieß es "rauchen", weshalb man später das mhd. Wort auch im Kontext von "benebelt und verdunkelt" lesen kann. Zudem existierte im gotischen sowie im angelsächsischen die Form dhumbs bzw dumb. Das ahd. tumb veränderte sich zum mhd. tump - auch die Form "tum" kam durchaus vor. Der harte Anlaut findet sich bis ins 18 Jh., wurde aber allmählich wie bei anderen Wörtern durch nhd. d ersetzt. Auch die Endungen -mb bzw. -mp wurden zum nhd. -mm assimiliert. Am Rande sei noch das englische dumb (stumm, sprachlos) und das schwedische dum (stumm, unklar, dumpf) genannt, denen man ohne große Schwierigkeiten ihre Verwandtschaft zur idg. Wurzel ansieht.

Bedeutungsspektrum

Das Spektrum an Bedeutungen des mhd. tump bzw. Tumpheit ist ziemlich groß. Hier seien vor allem zwei herausgehoben: Tumpheit im Sinne von Unverständlichkeit zum einen und Unwissenheit zum anderen. Unverständlichkeit hat wiederum viele verschiedene Schattierungen von unsinnig, toll bis hin zu töricht und dumm. Der tadelnde Sinn kommt dabei besonders zum Tragen. Unwissenheit kann hingegen durchaus lobend verwendet werden, also im Sinne von unerfahren. Diese Nuance kommt im mhd. viel häufiger vor als ihre Verwendung mit pejorativer Konnotation (also z.B. Unwissenheit=einfältig). Somit ist im mhd. der "dumme Junge" nichts anderes als der "grüne Junge". Nichtsdestotrotz bleibt die Tumpheit neben der Tôrheit und der Närrescheit ein Feind aller anderen Tugenden, da der Betreffende meistens über die nötige Verstandeskraft verfügt, dieses Verhalten zu kontrollieren.

Beispiele

Im "Mêre von einem Luoderer" (der "Geschichte über einen liederlichen Menschen", 11295) geht es um einen Trunkenbold, der auf dem Weg von der Kneipe in einer Menschenmenge einen Besessenen sieht und in seiner Gier nach Nachschub den in ihm steckenden Teufel auffordert, dieses vaz zu räumen und ihm zur Verfügung zu stehen: Der Teufel würde diese Bitte nach Besessenheit gern erfüllen, wird daran aber durch einen Tropfen Weihwasser gehindert, der sich trotz des Alkoholspiegels noch bei dem luoderer von einer morgendlichen Bekreuzigung gehalten hat. In diesem Kontext ist die Tumpheit wahrscheinlich eher im Sinne von töricht und dumm gemeint, da der Betrunkene albern daherredet und somit untugendhaft handelt. Es wäre aber auch denkbar, dass der Teufel ihm seine völlige Ahnungslosigkeit vorwirft, weil er zwischen den verschiedenen Formen von Besessenheit (durch Alkohol oder durch den Teufel) nicht zu unterscheiden weiß.
Im Kontext der Bileam-Geschichte (ab 11867) geht es um den Rat, den Bileam dem heidnischen König Barak erteilt: um die Juden zu besiegen, sollte er sie durch heidnische Frauen zur Abgötterei verlocken (und damit ihnen den Vorteil der Glaubensstärke nehmen); der Plan gelingt: Im Kontext der Geschichte wird deutlich, daß mit tumpheit nicht so sehr die Unwissenheit in Bezug auf die List des heidnischen Königs als vielmehr unkluges Handeln wider besseres Wissen gemeint ist. Erwähnenswert ist noch, dass das Wort dumm bzw. Dummheit im nhd. nur noch im geringen Maße als"Unwissenheit" verstanden wird und stattdessen in bestimmten Zusammensetzungen wie "saudumm, dumm wie Stroh" nicht nur tadelnd, sondern auch stark beleidigend verwendet wird.

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Heiner Klaasen-van Husen

Trunkenheit

Einer der Ersten, die einen Lasterkatalog zusammenstellten und somit den Grundstein der nachfolgenden Schemata legte war Johannes Cassian (geb. 432 n. Chr.). Dieser stellte sein Achtlasterschema nach den ethischen Schriften des ostkirchlichen Mönchtums zusammen und machte es im Westen des Reiches heimisch. Er ordnete die acht principalia vitia wie folgt: 1) Unmäßigkeit im Essen und Trinken 2) Unzucht, Unkeuschheit 3) Geiz 4) Zorn 5) Traurigkeit 6) Melancholie/Trägheit 7) Eitelkeit 8) Stolz Wie leicht zu sehen ist, sind die ersten zwei dieser Ordnung physiologisch, und die weiteren psychisch bedingt. Alle acht Laster sind in der Reihenfolge paarweise miteinander verknüpft und gehen auseinander hervor. Zugleich entstehen aus diesen Hauptlastern weitere Laster, die oft zu leicht genommen wurden, obgleich sie in der Bibel als solche gekennzeichnet sind. Das wichtigste dieser Ordnung im Ganzen, mit nachfolgenden Lastern ist, dass jedes nachgeordnete Laster in kausaler Verknüpfung mit einem Hauptlaster gebracht wurde. Durch eine Verkürzung in dieses Hauptschema können die anderen Laster kausal darauf aufgebaut werden. Somit bilden sie eine Steigerung, der möglichen Laster, wie sie auseinander hervorgehen. Unmäßigkeit beim Essen und Trinken bilden somit den Ursprung aller Laster.
Das zweite wichtige Schema (das für Hugo von Trimberg vorbildhaft war, vgl. die Struktur im
Registrum) stammt von Gregor dem Großen (geb. 604 n. Chr.). Sein Siebenlasterschema ordnet folgende sieben Hauptlaster indem er sie aus der Wurzel des Übels, dem Stolz (hôchfart), emporwachsen lässt: Eitelkeit, Neid (nît), Zorn, Traurigkeit (vgl. dazu tragheit, Geiz (gîtekeit), Unmäßigkeit (unmâze), Unkeuschheit (unkiusche). Wie bei Cassian sind die Laster unterteilt in vitia carnalia und vitia spiritalia. Ebenso entspringen aus diesen sieben Hauptlaster eine Reihe von anderen Lastern.
Ein Beispiel wie die Trunkenheit als Ursprung des Übels angesehen und deren Folgen ausgemalt werden, ist in einem Rätsel von Bonifatius (geb. 754 n. Chr.) zu sehen, in dem Tugenden und Laster personifiziert werden und sich selbst präsentieren:

Alcuin, De ebrietate

(Übs. zitiert nach Reinhold Kaiser: Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter; Köln 2002, S.123)
Immer werd´ ich von Zechern mit vollem Munde besungen,
Schmeichelnd und lockend bin ich den Toren ein liebwertes Mädchen.
Doch ich verwirre sogleich die Wilden in zornigem Streiten,
Schläferig mach´ ich die Augen, mühsam lallend die Zunge,
Schwankend mach´ ich die Füße und unheilverkündend die Träume,
Und den ganzen Körper mache ich krank und entkräftet.
Weit in die Ferne entflieht der Gesegneten goldene Weisheit,
Und zugleich mit mir entschwinden die Lüste der Toren.

So liebt mich immer die Üppigkeit als ihre liebliche Mutter.
Nie versiegende Nahrung habe ich in ihrem Schoße,
Grausame Seelen versengend mit schaurig flackernden Bränden,
Daß des hochragenden Sternenzelts Höhen sie niemals ersteigen.
Eingehen sollen sie sühnend in des Höllenschlunds Abgrund.
Möge Gott von dieser Schlange die menschliche Seele erlösen,
Daß solches Scheusal die Menschen auf ewig niemals verderbe.

Es werden hier kunstvoll steigernd die Folgen der Trunkenheit dargestellt. Der Streit, Verlust des Seh-, Sprach- und Gehvermögens. Die Krankheit als Langzeitfolge, sowie Geistesverwirrung. Die Üppigkeit, luxuria, oder Unzucht wird zur Tochter der Trunkenheit und gedroht wird mit Höllenstrafen. Der von Alkuin (geb. 804 n. Chr.) verfasste Lasterkatalog bildet wohl den nachhaltig wirkungsvollsten. Eigentlich als eine Art Fürstenspiegel oder Handbuch gedacht, verfasst für den Markgrafen Wido von Bretagne, bildete sein Werk den Kanon der nachfolgenden Schriften. Orientiert an Cassians und Gregors Schriften setzt er den Hauptlaster in eine Ordnung die einem Baum entspricht, da aus diesen Wurzeln alle übrigen Laster entspringen. Er bringt damit das Fehlverhalten des Menschen in eine übersichtliche Ordnung, die allerdings den alltäglichen lebensweltlichen Erfahrungen nicht mehr ganz entspricht.
Darstellung von Noahs Trunkenheit in der Bible moraliséeDie erste Begegnung mit dem Phänomen der Trunkenheit: Die Archetypen der Trunkenheit und die ersichtlich schlimmen Folgen, die in der mittelalterlichen Tradition immer wieder aufgegriffen wurden, sind Noas Schmach und Lots inzestuöser Umgang mit seinen Töchtern. Besonders der Fall Noas, der als erster Weinbauer gilt, von der Macht des Weines überrascht und betrunken wurde. Er verlor seine Würde und lag berauscht und entblößt vor seinen Söhnen. Da der jüngste Sohn, Cham, der Stammvater der Chanaaniter, diese Schande und Entehrung nicht zu beseitigen wusste wurde er verflucht. (Gn 9, 18-27, vgl. die als Binnenerzählung in die Bauernbelehrung eingelegte Version Hugos von Trimberg).

Etymologie

Trunkenheit: fem., wird wegen -heit stark dekliniert, ist eine Abstraktbildung zu trunken, ahd. Drunkanheit. Eigentlich ein î-Abstraktum zu trunken (got. Drugkanei, aisl. Drykkne, ahd. Trunkanî) ist es wohl in der althochdeutschen Zeit durch die -heit Bildung verdrängt worden.

Bedeutungsspektrum

  1. Rausch, Berauschheit nach dem Alkoholgenuss
  2. Trunksucht, die Sucht Alkohol zu genießen
  3. Ekstase, Gefühlsrausch´, im geistlich-, religiösen Bereich, eine geistliche Trunkenheit (ab dem Spätmittelalter, v.a. im mystischen Bereich, dann auch neuzeitlich: "Jugend ist Trunkenheit ohne Wein" (Goethe)

Beispiele

Bei Hugo von Trimberg wird Trunkenheit systematisch in der Distinctio Frâz abgehandelt, aber narrativ an verschiedenen Stellen im 'Renner' inszeniert, wenn es etwa um die Beschreibung des Luoderers geht. Da der Luoderer der Ausdruck für einen ist , der ein Lotterleben führt, ist dies ein guter Punkt die Trunkenheit ins Spiel zu bringen, vgl. die Überschrift im Registrum: Kapitel LXII von frazze vnd von luoderer vnd von spil vnd von tumpheit Die Folgen übermäßigen Alkoholkonsums werden ausführlich in dem Mêre von einem peiern dargestellt.

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Julia Fritz, Daniel Solling

Ungedult

Grammatische Bestimmung des Wortes

Das Wort ungedult ist das Gegenstück zu gedult und existierte auch ohne das Infix ge: undult, undulde. Bei diesem Wort handelt es sich um ein starkes feminines Substantiv. Andere Wörter der Wortfamilie sind: ungedulden (stN), ungeduldic/ungedultic (adj) und in Anlehnung an andere Lasterbildungen mit
-heit ungedulticheit (stF). Weitere Formerscheinungen sind: ungedüllig, ungedür.

Etymologische Herleitung des Wortes

Der Wortstamm zu ungedult ist dol. Das Wort entwickelte sich vom indogermanischen Verb *tel- mit der Bedeutung "heben, wägen, tragen, dulden" (vgl. lat. tollere, von daher das nhd. Fremdwort tolerieren) über das germanische swv. *þulen und *þulæn mit der Bedeutung "dulden" zum ahd. dolên bzw. dolôn mit der Bedeutung "dulden, ertragen" und schließlich zum mittelhochdeutschen schwachen Verb doln, das dieselbe Bedeutung trug. Im Althochdeutschen steht neben der dann ins Mhd. übernommenen Form ungidult noch das als î-Abstractum gebildete stF ungidultî.

Bedeutungsspektrum

1. Ungeduld, Heftigkeit; Ausbruch der Heftigkeit, der Leidenschaft, Feindseligkeit
2. Das, was nicht zu ertragen ist; das, was Ungeduld erregt Die zweite Bedeutung ist im Neuhochdeutschen vollständig verschwunden, während von der ersten Bedeutung nur noch "Ungeduld" übrig geblieben ist.

Beispiele

1. Bedeutungskreis: Die zweite mittelhochdeutsche Bedeutung von ungedult taucht im Renner nicht auf.

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Lisa-Maria Raff, Lotte Mundt

Unkiusche

Un-kiusche: stF, Adjektivabstraktum mit -î, ahd. kiusk-î; in Anlehnung an andere Tugend-/Lasterbildungen auch mit
-heit un-kiuschecheit (stF); dafür ist ein adj. kiuschec vorauszusetzen.

Etymologie

keusch: lat. conscius, got. *kûskeis, ahd. chûsci (adv. chûsko), ags. cûsc, altfries. kûsk, kûs, nl. kiusch, kuis; entlehnt schwed. kysk, dän. kydsk. Ältere oberd. Form künsch, alem. chiunsch, älter schwäb. könsch. asächs. kûsko, mnd. küsch(e), kusch, kû, aengl. cûsc, mnl. cuusc, nl. kuis. Spätere Verbableitung: keuscheln: "Keuschheit heucheln" (wie "frömmeln").
Die Ableitung des sustantivierten Gegenteils zeigt im Ahd. noch verschiedene Formen: unkûski, unchûskida, nist chûski.

Bedeutungsspektrum

: Das lateinische conscius ("mitwissend, eingeweiht, bewusst") steht am Anfang der Bedeutungsentwicklung. Mit der Übernahme in die gotische Kirchensprache wurden der säkulare Tugendbegriff "tugendhaft, rein, um das Rechte und Gute bewusst" spezifisch christlich geprägt: "der christlichen Lehre bewusst, das Geziemende". Das ahd. kûskî/kiuskî wurde im Rahmen der frühmittelalterlichen Christianisierung aus dem gotischen kirchensprachlichen *kuskeis übernommen: Aus der allgemeinen ahd. Bedeutung "geziemend, sittlich, mäßig, enthaltsam (in Bezug auf Nahrungs- und Sexualtrieb)" entwickelte sich "maßvoll, enthaltsam in sinnlicher Beziehung" und entspricht dann lat. castus, purus bzw. kiusche wird mit lat. castitas, modestia gleichgesetzt. Die Mundarten entwickelten die Bedeutungen: bayr.-österr. "schlank, leicht, fein, verletzbar"; hess. und mnl. im konkreten Sinne "sauber". Das Bedeutungsspektrum von "keusch" beeinflußt dann auch das Verständnis des Worts "koscher" (jiddisch kauscher aus hebräisch kâsêr: "tauglich", vermittelt durch die oberd. Form kausch) als "rituell rein". Bei den Römern entstanden Sünde (nefas) und Schändliches/Gottloses (profanum) durch Unreinheit (Unkeuschheit, Unnüchternheit, gewisse Krankheiten, rohe Reden, Feindschaft, Hass). Es wurde derjenige als unrein befunden, der keine‚castitas aufwies.

Beispiele


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Irina Petrova, Manfred Streiter

Unmâze

(Un)mâze stF., swF.

Etymologie

ahd. mâza zum stV mezzan, mhd. mezzen, Ablautreihe V, got. mitan "messen", mitôn "bedenken", gr. medô "erwägen", lat. meditari "überlegen"

Bedeutungsspektrum

Grundbedeutung "Maß":

Beispiele

Die mâze taucht in ‚Der Renner' sehr häufig auf, sie gehört mit der triuwe und der staete zum innersten Bereich der Ethik des höfischen Ritters. Sie wohnt jeder natürlichen Handlung inne wie die caritas jeder übernatürlichen. Greifen wir exemplarisch einige Stellen heraus:
3825 wandelt Hugo von Trimberg das Motto von Freidanks 'Bescheidenheit' ab, wenn er dessen Leittugend mit der Mâze verbindet: 4741 Im diätetischen Bereich ist mâze die Voraussetzung für Gesundheit. Hugo von Trimberg schließt seine Überlegungen an Beobachtungen an, die er bei einem Bankett König Adolfs von Nassau gemacht hat. Im Gegensatz zur Völlerei und Gier (vrâz und gîtekeit) meint es Selbstdisziplin: Mâze zusammen mit zuht präsentieren sich als universal einsetzbar: Das Sprichwort Mâze ist ze allen dingen guot wird daher mehrfach zitiert für verschiedene Zusammenhänge: Sie ist weniger inhaltlich festgelegt als andere Tugenden, dafür als Mittel zum Zweck einsetzbar: Weitere Beispiele für die vielfältigen Bedeutungsmöglichkeiten von mâze/unmâze je nach narrativem und didaktischem Kontext: => Die maze stellt auch für die Tiere eine von Gott gewollte Norm dar, an die sie sich halten sollen. Hugo von Trimberg misst der mâze zwar theoretisch eine große Bedeutung im Katalog der Tugenden bei, wie aber seine seitenweisen Darlegungen über rehte mâze bei Essen, Trinken und seine Schilderungen einiger Wirtshausszenen zeigen, hat sich sein mâze-Verständnis weit von dem höfischer Kultur des 12. Jahrhunderts entfernt. Die unmâze (frâz) bedeutet im kirchlichen System das Laster der gula. Aus der unmâze ergeben sich bei Hugo von Trimberg u. a. die Sünden der hôchfart und der unkiusche: Aber:

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Sabrina Hirche

Untriuwe

(Un)triuwe: stF.

Bedeutungsspektrum

Zu übersetzen ist dieses Wort mit Treue. Wenn man diese versprach, so ging dies einher mit Zuverlässigkeit, Wahrheit, Aufrichtigkeit, Vertrauen, Zuversicht und Hilfe. Auch die Beständigkeit dieser Eigenschaften ist bei der Triuwe von Wichtigkeit. Man setzte es auch in eine Reihe mit fester Verbundenheit und beständiger Anhänglichkeit. Für das germanische Gefolgschafts- und für das mittelalterliche Lehnswesen war die Triuwe konstitutiv. Handlungen die dem Herrn oder Mann schaden konnten, waren zu unterlassen. Desweiteren wurde der Begriff ausgedehnt auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, wie auch zwischen Mann und Frau, und zwar sowohl in der Ehe, wie auch in der Minne. Es war also eine gegenseitige feste Abmachung oder ein Vertrag auf Grund eines Treueversprechens. Das Wort entwickelte sich also von einer konkreten Handlung zu einem abstrakten Begriff des Verhaltens. Im Mittelhochdeutschen wird es als Kernbegriff der ritterlich-höfischen Ethik verwendet. Es behält jedoch weiterhin einen religiösen Charakter. Neben der Funktion als Inbegriff weiblicher und männlicher Tugend, weist es noch auf weitere Bedeutungen hin: Mannheit, Tapferkeit, Ehrgefühl, Standhaftigkeit, Liebe, Güte, Freundschaft, Hingebung, Ehrfurcht, Dankbarkeit, Freigebigkeit, Barmherzigkeit, Milde, Gemeinsinn, Vertrauen, Pietät, Verschwiegenheit, Schamhaftigkeit, Gottesfurcht und Demut. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieses Wort mit dem wesentlich besser bezeugten Wort für Baum und Holz zusammengehört, was auch auf die neuere Gebrauchsweise hinweisen würde. Man sieht diese Begriffe dann als Symbole für die Eigenschaften Festigkeit, oder auch Standhaftigkeit. Erst im Neuhochdeutschen überwiegt der Begriff des Steten, Festen, Dauernden. Der Gegenbegriff ist die Verletzung der Bindungen in Akten der Untriuwe.

Beispiel

Am Ende der letzten Hauptsünder, der
Lazheit zählt Hugo von Trimberg verschiedene Untersünden auf, wie liegen und triegen und meineid, denen nur durch triuwe gewehrt werden kann (ein Loblied auf die Treue ab 18575), da sie untriuwe als gemeinsame Amme haben:

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Annika Ochner, Annika Wuttke

Virwiz

Virwiz: stM. Weitere Schreibweisen vürwitze, virwitte, vürwiz, vorwiz. Virwiz bedeutet "Neugier" und soll wohl die Bedeutung "Verwunderung", "erstaunen" intensivieren. Auch kann es mit "Wissbegierde" übersetzt werden, dann allerdings fast immer mit einem Unterton der Ungehörigkeit. Zunächst ist der Sinngehalt weitgehend von dem kirchlichen Begriff der curiositas (Wissbegier, Neugier) bestimmt. Im weiteren Sinne kann virwiz auch mit "Erlebnisdrang" übersetzt werden.

Etymologie

Zurück geht virwiz auf das althochdeutsche Wort firiwizzi (auch firwizze, furwizze, furewizze). Dort kann man von der Bedeutung "Wunder" (das über das übliche Wissen und Erfahrungsmaß bzw. das Wissbare hinausgehende, erstaunliche, Verwunderung erregende, wunderbare, erstaunliche, überaus schöne) oder "Erscheinung" ausgehen. Diese leiten sich von der Grundbedeutung der Wurzel des Verbs "wissen" ab. Die Grundbedeutung dieses Verbs lässt sich auf das griechische eidon zurückführen und wird mit "ich erblickte/ erkannte" übersetzt. Daneben übersetzt man aus dem Mittelhochdeutschen "mich wundert" im Neuhochdeutschen mit "ich empfinde Neugier, mich verlangt zu wissen". Es gibt verschiedene Möglichkeiten, über die sich das Nomen virwiz herausgebildet haben kann. Zum einen gab es im Gotischen das Verb fairweitjan ("gespannt hinblicken, anstarren"), zum anderen gab es im Althochdeutschen das Adjektiv firiwitgern ("nach Wundern begierig, neugierig") aus denen sich durch Rückbildung die Substantive mit der Bedeutung "Neugier" entwickelten. Andere Hinweise gibt es nicht.

Bedeutungsspektrum

Es ergeben sich verschiedene Sinne je nach Kontext (selten ohne tadelnden Beisinn) Daneben kann es auch als Kompositum verwendet werden und ist vereinzelt mundartlich belegt. So gibt es einen "fürwitzigen mensch" oder den "naseweis" (vörwetznase). Im 'Renner' begegnet es auch personifiziert (s.u.).

Beispiele

: Im 'Renner' von Hugo von Trimberg wird mit dem Wort "virwiz" in der Anfangsallegorie des Birnenfalls ein Wind bezeichnet. Hier hat es folglich die Funktion eines Eigennamens. Dieser Wind bringt die Birnen am Dornbusch zu Fall, die für die sündigen Menschen stehen.
"Virwiz" kann auch sonst personifiziert werden, wie das folgende Textbeispiel belegt: Diese Auswirkungen des Virwiz werden weiter ausgeführt: Kurz davor kann virwiz mit Neugier im Sinne von "unstetes, immer neuen Zielen zudrängendes Streben" übersetzt werden kann:

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Meike Siegelova

Vrâz

vrâz stM. Fresser, Vielfrass, Nimmersatt; das Essen, Fressen, Gefräßigkeit, Schlemmerei. Auch als Schimpfwort.

Etymologie

Zurückgeführt wird das Abstraktum Fraß als 'Nomen agentis' postverbal auf das stv. mhd. v(e)rezzen, ahd frezzan, as. fretan, eine schon alte Verschmelzung des Verbs essen mit der Vorsilbe ver-. Die Bedeutung ist "aufessen, verzehren", erst im Mittelhochdeutschen beginnt die Differenzierung "essen" bei Menschen - "fressen" bei Tieren. Vrâz ist auch die geläufige Übersetzung der Todsünde gula

Bedeutungsspektrum

Im Mittelhochdeutschen ist das Wort frâz bereits durchgängig negativ konnotiert.
  1. Die Person des Fressers (gulo, edo): 5987: der ist unkiusche, dirre ein frâz (Der eine ist unkeusch, dieser ein Fresser), 9551: schement iuch, slünde und fraeze (Schämt euch, ihr Gierschlünde und Vielfraße); 10137f: swer vrô wil sîn und lang gesunt, der mîde iuch zwên, her frâz und her slunt (wer froh und lange gesund bleiben will, meide Euch zwei, Herr Gefräßigkeit und Herr Schlingerei)
  2. Als Todsünde. Bei Hugo von Trimberg steht frâz nach hochvart und gîtekeit an dritter Stelle (tertia distinctio) und geht mit lockerem Lebenswandel und Dümmlichkeit einher, die Gier bezieht sich jedoch nicht nur auf orale, sondern auch geistige Ausmaße: 9432 Von dem frâze ich sagen wil. /Frâz, luoder unde spil/ Machent tummer liute vil,/ Und unkiusche, diu ouch ir gespil/ Ie was und muoz immer sîn. (Über die Fressgier möchte ich sprechen. Fressgier, lockere Lebensführung und Vergnügungssucht sind für viele törichte Leute verantwortlich, ebenso wie die Unkeuschheit, welche ebenfalls deren Gespiele von jeher war und notwendigerweise immer sein wird.)

Beispiele

In einer Birnbaumallegorie verbildlicht Hugo die sieben Todsünden. Dem Fraß und seinen Gesellen Vergnügungssucht und lockerem Lebenswandel weist er eine Pfütze als Sündenpfuhl zu: Diese Gefolgschaft des vrâz wird dann in einem reien vorgestellt, den die Herren Slunt und Trunc anführen und bei denen (9450) Tracher, Giuzîn und Verquelle, Güsemunt, Trûtwîn und her Schelle (in einer Mischung zwischen verballhornten Eigennamen und personifizierten Appellativen die Herren "Trag herbei", "Gieß ein", "Sich verzehrn", "Gießmund", "Weinliebhaber" und "Dröhnkopf") mittanzen. Der Freßgier liegt Hugo zufolge eine Zügellosigkeit und Dekadenz zugrunde, die entweder dem Überfluß, der Dummheit oder beidem entspricht. Selbstdisziplin ist der weitaus schwierigere Weg als die einfache Hingabe an die Gelüste: An anderer Stelle kommentiert Hugo die Anhängerschaft unguter Gewohnheiten, welche weit zahlreicher vertreten ist als die des tugendhaften Lebens: Abschließend ein guter Rat Hugos: 9704 "Dern ezze niht mêre denne sîn natûr/ bedarf, sô belîbet er lange gesunt/ und spart mit êren manic pfund."

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Melanie Young

Zorn

Zorn: st/swM (meist st, keine Pluralformen), adj. zorn/zornec.

Etymologie

Im Ahd. ebenfalls zorn (heftiger Unwille, Wut, Beleidigung, Streit). Im ags. torn (Zorn, Beleidigung) und dem nnl. toorn (Verunreinigung, Scheidung, Spaltung) als Grundbedeutung des westgerm. Substantivs, das dem gotischen und nordischen fehlt. Das in der alten Sprache vorwiegend neutrale Geschlecht stützt die Vermutung, dass hier die Substantivierung eines Adjektivs vorliegt; dies erscheint in mhd. zorn, asächs. ags. torn "bitter, grausam; schmerzlich, drückend". Hierin sieht man das alte Partizip auf -no zur Verbalwurzel germ. *ter-, idg. *der- "schinden, die Haut abziehen, (ab)spalten" in trennen, zart, zehren, zergen, zerren, so dass Zorn über "Zerrissenheit, Zwist" zu seiner späteren Bedeutung gelangt wäre. Nahe vergleichbar sind das mhd. zar, ags. taru "Riß", anord. tara "Streit", got. distaíran "zerreißen".
Verwandte Formen sind zorn, zoren (Adj./Adv. zornig; ärgerlich, empört, erzürnt sein/werden, erzürnen, ärgern, zornig/wütend machen (auf)). zorn, zoren, zurn, tzorn (stswMstN Zorn, Wut, Hass, Ärger, Empörung, Zank, Streit, Ungnade, Strafe). zorn-,zorne-bære (Adj. zornig). zorn-drô (stF Drohung). zorn-druc (stM Wutausbruch). zornec/ic, zurnic, tzornec (Adj. zornig, erzürnt, wütend, grimmig, jähzornig, heftig). zornec/ic-lich (Adj. -lîche(n) Adv. Erzürnt, zornig, wütend, grimmig). zorne-, zorni-keit, tzornicheit (stF Zorn, Unbeherrschtheit). zornen ([s.] zürnen). zörner ([s.] zürner). zorn-galle (swF bitterer Zorn). zorn-haft (Adj. zornig). zorn-,zörn-lich (Adj. -lîche(n) Adv. zornig, grimmig, erzürnt, zornlicher tac Jüngstes Gericht). zornlicheit (stF (Jäh-)Zorn, Wut). zorn-macher (stM Angreifer). zorn-mære (stN Streit). zorn-muot (stM Zorn). zorn-schal (stM Wutausbruch). zorn-var (Adj. zornrot, grimmig). zorn-wille (swM Wutausbruch).

Bedeutungsspektrum

Zorn ist eine der Todsünden und entspricht lat. ira, dem es auch im Bedeutungsspektrum angepaßt ist: "Wut, Zorn, Beleidigung, Hass, Ärger, Zank, Empörung, Streit, Ungnade". Häufig tritt es in den Lasterreihen gekoppelt mit
Nît auf (lat. Invidia), so auch im 'Renner', wo Zorn unde Nît eine gemeinsame Distinctio bilden (ab v. (V. 13899), vgl. auch das Registrum). Daneben kann Zorn eine berechtigte Reaktion auf falsches Verhalten sein.

Beispiele

Zorn ist nicht nur eine menschliche Empfindung, sondern kann auch über Gott ausgesagt werden: Daneben ist die Empfindung aber in der Verbindung mit anderen Sünden eindeutig negativ besetzt. Der Dornbusch, der für die Ursünde der Hôchvart verfügt über: Als idiomatische Wendung bedeutet zorn sîn "ein Ärgernis sein". Der Teufel sagt über den erst kurz vor dem Tode eingekleideten Reichen:


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Literatur

Grammatiken

Wörterbücher

Etymologie

Renner

Der 'Renner' Hugos von Trimberg ist in den angeführten Beispielversen nach der Internetversion zitiert, die auf der Ausgabe von Ehrismann beruht (Gustav Ehrismann: Der Renner von Hugo von Trimberg (Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart), Tübingen 1908-1912, Band I-IV).